In manchen deutschen Kleinstädten erreicht der Anteil an erneuerbaren Energien bisweilen Spitzenwerte von 200 Prozent: Das heißt, es wird sehr viel mehr Energie eingespeist, als tatsächlich verbraucht wird. An Sonn- und Feiertagen ist das der Fall, wenn die Gewerbe ruhen und das Wetter besonders schön ist.
"Wir haben einen Riesenschritt geschafft", sagt Prof. Dr. Ing. Hermann de Meer, Inhaber des Lehrstuhls für Rechnernetze und Rechnerkommunikation an der Universität Passau, mit Blick auf die Energiewende in Deutschland. "Jetzt geht es darum, die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen." Der Forscher beteiligt sich an dem EU-Projekt EASY-RES, das unter der Koordination der Aristoteles-Universität Thessaloniki europaweit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis zusammenbringt.
Überlastung der Netze droht
Der hohe Anteil an erneuerbaren Energien speist sich in vielen Fällen vor allem aus kleinen Photovoltaikanlagen, die Privatpersonen betreiben. In Bayern spielen auch Biogasanlagen eine Rolle. Der neue Energiemix stellt die örtlichen Verteilnetze vor große Herausforderungen: Wird zu viel Energie ins Netz eingespeist, steigt die Spannung insbesondere an den Rändern massiv an. Überlastung droht.
Stadtwerke und Verteilnetzbetreiber stabilisieren das Netz bislang, indem sie es massiv ausbauen. Übertragungsnetzbetreiber gleichen die Schwankungen mit hohen Kosten aus. Doch womöglich gäbe es auch andere, ökonomisch und ökologisch klügere Lösungen. Ein Schlüssel für die Spannungshaltung könnte Blindleistung sein.
Der Ausgleich könnte auf dezentraler Ebene erfolgen, also bei den privaten Einspeiserinnen und Einspeisern. Diese könnten den Strom aus ihren Photovoltaik-Anlagen überprüfen, bevor sie ihn ins System einspeisen. Das wiederum könnte erhebliche Netzreserven freimachen und wäre zudem für die Privatpersonen auch finanziell attraktiv.
"Wir müssen Möglichkeiten schaffen, damit bereits an dieser Stelle der Verteilnetze die Netzdienstleistung erbracht wird", fordert Professor de Meer. "Das gehört untrennbar dazu, wenn sich jemand als Stromerzeugerin oder -erzeuger betätigt. Das ist vergleichbar zu einer Qualitätssicherung des Autos oder des Hauses."
Die Abkürzung EASY-RES steht denn auch für "Enable Ancillary Services by Renewable Energy Sources", was übersetzt in etwa bedeutet: Netzdienstleistungen für erneuerbare Energiequellen möglich machen. Diese verteilten und dezentralen Netzdienstleistungen sollen Frequenzhaltung, Spannungshaltung und Fehlertoleranz beinhalten und auf Speicher- und Invertertechnologien beruhen. "Die dezentrale Lösung wäre sowohl preiswerter als auch ökologischer. Dies entspräche einer konsequenten Umsetzung der Energiewende", sagt Professor de Meer.
Konkret hätten dezentrale Netzdienstleistungen folgende Vorteile: Sie könnten den umstrittenen Ausbau von neuen Hochspannungsleitungen reduzieren. Wenn die Netzdienstleistungen vor Ort erbracht werden, wären keine weiten Wege für diese Dienstleistungen mehr nötig. Und: Reservekraftwerke mit synchronen Generatoren müssten für diese Netzdienstleistungen nicht mehr in Bereitschaft gehalten werden. "Dieses fragwürdige Vorgehen könnte man sich bei den dezentralen Netzdienstleistungen sparen", so Professor de Meer.
Das Projekt EASY-RES könnte also den Verteilnetzbetreibern Kosten sparen und womöglich sogar lukrative Märkte eröffnen. Die Informatikerinnen und Informatiker um Professor de Meer bringen ihre Digitalisierungsexpertise im Bereich Smart Grids ein, intelligente Stromnetze also, die die Komponenten der Energieversorgung miteinander vernetzen. Sie entwickeln dafür intelligente Algorithmen, um Erzeugung und Verbrauch zu überwachen. Diese IT-Lösungen stellen sie Open Source zur Verfügung. Und zwar so, dass diese sowohl die private Hausbesitzerin auf ihre Photovoltaik-Anlage anwenden könnte, als auch der griechische Übertragungsnetzbetreiber auf das örtliche Energiesystem.
"Wir wollen Lösungen schaffen, die übertragbar sind", sagt Professor de Meer. Die Projektpartner aus den anderen EU-Ländern hoffen, von den deutschen Erfahrungen mit der Energiewende profitieren zu können. Dies ist ganz im Einklang mit den neuesten Bestrebungen der ENTSO-E (European Network for Transmission System Operators for Electricity) zur erfolgreichen Fortsetzung der Energiewende.
Projektpartner und Förderung
Die Aristoteles-Universität Thessaloniki koordiniert das Projekt. Neben der Universität Passau sind folgende wissenschaftliche Einrichtungen beteiligt:
- Universidad de Sevilla, Spanien
- Technische Universiteit Delft, Niederlande
- Lancaster University, Großbritannien
- Zentrum Digitalisierung.Bayern, Deutschland
Folgende Organisationen aus der Praxis sind Teil des Konsortiums:
- Independent Power Transmission Operator SA, Griechenland
- ELEKTRO GORENJSKA PODJETJE ZA DISTRIBUCIJO ELEKTRICNE ENERGIJE DD, Slowenien
- Stadtwerke Landau a.d. Isar, Deutschland
- Stadtwerke Hassfurt GmbH, Deutschland
- Fenecon GmbH & Co. KG, Deutschland
Die Europäische Union stellt für das Projekt im Rahmen der Finanzhilfevereinbarung Nr. 764090 Fördermittel aus dem EU-Programm für Forschung und Innovation "Horizont 2020" bereit. Die Fördersumme beträgt über einen Zeitraum drei Jahren 4,5 Millionen Euro. Davon gehen 750.000 Euro nach Passau.